Was es über die weiße Schönheit alles zu sagen gibt: Artikel Leipziger Internetzeitung über “S
Was es über die weiße Schönheit alles zu sagen gibt:
Schritte im Schnee
Ralf Julke , 07.01.2012
Ein Blick aus dem Fenster, ein Blick aufs Thermometer – nein, nach Schnee sieht es nicht aus. Wer schneesüchtig ist, drängelt sich derzeit auf den Pisten in den Bergen. Wer Schnee liebt, geht wohl leer aus. Denn Schnee ist eigentlich etwas anderes – für Viele das Bild für Stille, Ruhe, Besinnung. Oder Gedichte. Jean-Michel Maulpoix hätte seinen Band Prosagedichte auch “Weiß” nennen können.
Maulpoix, das ist dieser Literaturprofessor aus Paris, der im Leben jenseits der Universität das macht, was deutsche Literaturprofessoren eher selten machen – er schreibt selbst Literatur. Ein wenig verwandt ist er dem berühmten Literaturprofessor aus Bologna, Umberto Eco, der sein gewaltiges Wissen über die Literaturgeschichte Europas in Essays, Kolumnen und gewaltigen philosophischen Romanen verarbeitet. Maulpoix liebt mehr die kleineren Formen – Gedichte und Essays. Aber auch er hat seinen Kanon der geliebten Vorbilder. Mit Rilke hat er sich intensiv beschäftigt. Auch die großen modernen Dichter Frankreichs sind ihm nah – Mallarmé, Francis Ponge und Henri Michaux. Letzterer auch als Maler bekannt. Was die nächsten Freunde des Dichters ins Licht rückt. Das konnten Leser seines Bandes “Eine Geschichte des Blau” schon miterleben. Er mag die großen Impressionisten – Monet, Pissaro und Sisley besonders. Er sieht die Welt gern mit ihren Augen. Denn das Faszinierende am Impressionismus ist ja, dass er die Welt aus Farben webt. Er war tatsächlich eine echte Revolution in der Malerei. Mit ihm lernten die Maler, die Welt als ein Gewebe aus Licht zu begreifen – und zu malen.
Und genau das reißt auch Maulpoix immer wieder in den Bann – beim Betrachten ihrer Bilder, beim Hören von Musik (etwa der von Debussy), und beim Versuch zu erfassen, was Schnee eigentlich ist. Und während allerlei Adepten, wenn es um Schnee geht, immer wieder das Märchen von den Eskimos und ihren vielen Begriffen für Schnee erzählen, demonstriert Maulpoix, dass auch die französische Sprache genauso viele Nuancen dafür kennt. Und weil Margret Millischer das alles wieder farbenreich ins Deutsche übersetzt hat, darf auch der Leser hierzulande mitentdecken, wie reich unsere Bilder- und Wortwelt für das ist, was Schnee für uns bedeutet. Und natürlich ist Schnee zuallererst die vollkommene Umsetzung dessen, was wir als Weiß begreifen. Er verwandelt komplette Landschaften in Holzstiche, reduziert die Welt in Zeichnungen, ist weich und flockig, steigt langsam auf die Erde herab, assoziiert weiße Wolken, Federn, Kristallzucker, Leinentücher – das erste weiße Tuch bei der Geburt und das letzte auf der Bahre. Er ist Bild für den kompletten Neubeginn und das harrende Leben unter dem Schnee, der mal unter den Schritten knirscht, dann wieder jeden Laut verschluckt. Man hört ihn schon, wenn man am Morgen erwacht. Die Welt klingt anders. Deutlich gedämpfter. Und wenn man dann hinausgeht, sind alle üblichen Wege und Grenzen verwischt. Und die Spuren verlieren sich im Weiß.
Es sind mehrere Essays, in denen sich Maulpoix der Sache nähert. Er reichert die scheinbar so karge Materie und die Farbpalette immerfort an. Denn unter dem Schnee harrt das Leben auf das Tauen. Der Schnee assoziiert Hoffnung und Erstarrung zugleich. Und auch eine Schneefrau spielt für Maulpoix eine für sein Leben wichtige Rolle, auch wenn er mit seiner Großmutter eher die Farben Silber und Grau verbindet. Aber auch das sind Farben des Schnees, die in diesem Fall auch für die Strenge der Lehrerin stehen, für das Beharrliche und den Verzicht. Maulpoix macht das, was viele Schnellschreiber der Gegenwart gar nicht erst gelernt haben: Er geht der Sprache auf den Grund, findet die ganze Vielfalt unserer Vorstellungen und Assoziationen, die wir mit der Welt und ihrem ganz konkreten Weiß verbinden. Alles Bilder, die auch im heutigen Sprachgebrauch noch da sind, mitklingen. Auch dann mitklingen, wenn ein literarisches Großmaul drauflos schreibt, als wären die schwarzen Zeichen auf dem weißen Blatt Papier ganz ohne Geschichte, ohne Farbe, ohne Tiefe.
Wahrscheinlich ist es genau so, wie Maulpoix es beschreibt: Zum Schreiben braucht man Ruhe. Man muss sich den Raum wieder freimachen, damit man selbst hört und spürt, was man da schreibt. Und wie man es schreibt. Es ist ein Sich-Verlieren – und das Gegenteil, so, wie er es auch bei Flaubert gefunden hat: größte Konzentration und Strenge. Es steht so nicht da, aber so wie Maulpoix über das Schreiben schreibt, kritisiert er das schreiende Schreiben, das heute die Buchläden füllt, das Außersichsein und Drüberweghuschen der Tagesliteraten. Die logischerweise auch nur über Oberflächliches schreiben.
Schnee steht auch für das Bild der Geliebten, das verlassene Bett nach einer gemeinsamen Nacht, für Nähe und Verlust. “Unser Erdendasein (…) Zusammengenäht aus Sehnsüchten und Träumen.” Denn nach dem Schnee wird erst fassbar das, was dann aufbricht: Das Aufbäumen der Grashalme, das wir gar nicht so sehr mit dem Frühling gleichsetzen. Eher Kirschblüten und Vogelgesang.
Man kann die Texte langsam lesen und einfach eintauchen und mit Maulpoix durch verschneite Felder und Landschaften stapfen, manchmal auch schauern und frieren und dann drinnen hinterm Fenster stehen und hinausschauen und wissen, dass der Schnee nur begreifbar wird, wenn man da draußen ganz allein durch eine von Schnee konturlos gewordene Baumallee läuft. Das ist – der Dichter ist ja allgegenwärtig – auch das intensive Bild fürs Schreiben selbst: “Meine Arbeiten mit schwarzer Tinte und meine Gedanken aus Schnee.”
Und da der Band wieder schön zweisprachig gedruckt ist, kann, wer des Französischen mächtig ist, das Original neben der Übersetzung lesen. Denn nicht alles lässt sich übersetzen. Und wenn es die Versmaße sind, die Maulpoix stillschweigend in einige Sätze einbaut – oder die Alliterationen, Anklänge, unauffälligen Echos der Worte. Meist wie zufällig.
Aber was ist schon Zufall, wenn einer sich derart die Mühe macht, über ganze Blätterlandschaften aus Schnee zu laufen und dabei alles mitzudenken, was ein gebildeter Kopf weiß über den Schnee, das Davor und das Danach? “Sich uralte Schneemassen vorstellen, die nicht und nicht schmelzen wollen …” Erlösung, Gebet und Vergänglichkeit. Für alle, die jetzt ein bisschen Sehnsucht nach Schnee haben – und der verzweifelten Panik einer störanfällig gewordenen Welt dann und wann entfliehen wollen, die mit diesem Schweigen in Weiß so partout nichts anfangen kann.
Aktuelle Beiträge
Alle ansehenDer Vortrag von Chantal Colomb-Guillaume mit dem Titel “Jean-Michel Maulpoix et Paul Celan: le lyrisme après Auschwitz”, den sie beim...
Comments